Kapitel sieben

Im Anschluß an diese vielversprechende Unterredung kamen wir in der Freistatt eben zurecht zum abendlichen Frohmat. Bisher hatte ich auf die Teilnahme daran verzichtet, aber jetzt war Tad bei mir, und es gab so viel zu hoffen – insbesondere Juniors baldige Rettung –, deshalb sagte ich meiner Nummer Eins in spe, daß ich zwar in bezug auf die größeren Mysterien des Glaubens noch eine Novizin sei, die Grundlagen des Frohmats aber aus dem Effeff beherrschte und mich von der Geburt genügend erholt hatte, um einen Versuch zu wagen – natürlich nur, wenn er nicht schon anderweitig verpflichtet (›gespeichert‹) war. Er lachte und erwiderte: »Molly, nichts könnte mich mehr freuen und unserer glücklichen Zukunft förderlich sein.« Also überließ ich Jubilee einer Glaubensschwester, die an diesem Abend abstinent bleiben wollte, legte meine Kleider ab und schritt Hand in Hand mit ihm zur Frohmatklause.

Ursprünglich der Heizungsraum, war die Klause jetzt mit Futons ausgelegt und wurde von gedämpftem orange getönten Licht erhellt. Wir folgten Anna, die sich einen stämmigen Daltoni ausgesucht hatte, verloren sie aber gleich aus den Augen, so viele waren zu der abendlichen Zeremonie zusammengekommen. Das Instruktionsband begann abzulaufen, eine weiche, einschmeichelnde Frauenstimme forderte uns auf, allen Gedankenballast abzuwerfen, uns gehen zu lassen und zum gemeinsamen Vorspiel zu vereinen. Dann, sobald wir uns genügend erregt fühlten, sollten wir die ›Position‹ einnehmen. Tad und ich folgten den Anweisungen im Verein mit allen anderen. Der Mann, Mensch oder Androide, saß in der Lotushaltung, die Partnerin auf dem Schoß und Brust an Brust, so daß die Chakras sich berührten, um die Intensität des bevorstehenden Frohmats zu maximieren. Während wir uns sacht vor- und zurückwiegten, instruierte uns die Stimme, unsere Zielrealität zu imaginieren und während des Orgasmus beizubehalten, den wir ganz nach eigenem Belieben anstreben sollten, doch sobald das erste Paar sich dem Klimax näherte – die Frau stieß schrille, ekstatische Schreie der Hingabe aus –, wirkte dieses Beispiel derart stimulierend auf sämtliche Anwesenden, daß es zu einem fünf bis zehn Minuten dauernden Frohmat kam und der Raum von einem wahrhaft bemerkenswerten Getöse widerhallte. Es war mir ein Rätsel, wie irgend jemand auf sein Zielformat konzentriert bleiben konnte, doch bei einem verstohlenen Blick auf die Paare ringsherum konnte ich sehen, daß sie alle – meinen Partner eingeschlossen – trotz ihrer erregten Verfassung und verbalen Exzesse die Augen in erkennbarer Konzentration fest geschlossen hielten, ein Kunststück, das ich nachzuvollziehen trachtete.

Für Tad kann ich nicht sprechen, aber ich vermute, hinter seinen geschlossen Lidern zogen Bilder eines glücklichen ›und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹ in Horizont vorüber. Da ich niemals dort gewesen war und nur auf seine und Annas Beschreibungen zurückgreifen konnte, fand ich es unmöglich, mir ein deutliches Bild von diesem Ort vor Augen zu halten. Also konzentrierte ich mich auf Armstrong und imaginierte meinen Sohn, aus den Studios befreit und wieder ganz er selbst, wie er mir beim Landungsobelisken freudig entgegeneilte. Und während Tad in lustvollem Taumel »Ooooh Molly!« stöhnte, rief ich: »Junior! Oh, Junior!«, eine Diskrepanz, die er in dem allgemeinen Getöse nicht wahrnahm, doch mir legte sie sich schwer auf die Seele, mußte ich doch begreifen, daß es eigentlich der Sohn war, den ich begehrte. Diese Erkenntnis schockierte sogar mich, wirkte aber gleichzeitig befreiend, denn jetzt wußte ich den Grund für meine zwiespältigen Gefühle bei Tads Antrag. Dennoch war es ein schmerzlicher Moment, denn es war der Vater, auf dem ich mich in ekstatischer Vereinigung wand. »O lieber Chef. Muß ich denn immer wieder unter dem Einfluß konträrer Impulse agieren?« sagte ich zu mir selbst und spürte die Abwesenheit des Sohnes weit stärker als die Anwesenheit des Vaters. Diese bittersüße, von einem exquisiten Paradoxon geprägte Empfindung dauerte nur einen Moment – aber was für einen Moment! –, denn schon im nächsten brach ein wahres Pandämonium aus, die Lichter gingen an, blendeten uns, und die Polizei von Armstrong stürmte in den Raum.

Wie es mir und so vielen anderen gelang, ihnen zu entwischen, weiß ich bis heute nicht. Es war bestimmt keine sehr erfolgreiche Razzia. Eigens für Notfälle dieser Art existierten in der Freistatt mehrere Fluchttunnels, und durch einen von denen muß ich entkommen sein, weil ich mich plötzlich in einem leerstehenden Haus neben unserem Gebäude wiederfand, eine viel zu große Tunika, die ich irgendwo an mich gerafft haben mußte, krampfhaft an die Brust gepreßt. Ich rief nach Jubilee, dann packte mich jemand und zog mich mit sich in die Dunkelheit. Ich vermute, es handelte sich um einen Androiden, denn Menschen hätten mich nicht daran hindern können, wieder in diesen Tunnel zu stürzen und meine Tochter zu suchen. Danach kann ich mich erinnern, wie ich neben den anderen herlief, bis beschlossen wurde, daß wir uns trennen und später am Obelisken wiedertreffen sollten. Dann war ich allein, und es blieb mir nichts weiter zu tun, als das Hemd anzuziehen und mich bis zum Abend unter einer Treppe zu verstecken. Als es dunkel wurde, wagte ich mich hinaus, verirrte mich trotz meines internen Kompasses und geriet in den Busbahnhof von Armstrong. Dort mischte ich mich unter den Pöbel und versuchte dumpf, das Unheil zu begreifen, das so plötzlich über mich hereingebrochen war. Leider ohne großen Erfolg. Zu erschüttert, um klar denken zu können, hockte ich einen ganzen Tag wie gelähmt im Wartesaal und trauerte über den Verlust von Jubilee, Tad, Anna und dem Glück, das ich nur so kurze Zeit genießen durfte. Es war der Tiefpunkt, der absolute Tiefpunkt!

Nach und nach kam mir wieder zum Bewußtsein, daß es einen Plan für ein Treffen am Obelisken gegeben hatte. Ich faßte mir ein Herz und machte mich auf den Weg dorthin. Nach häufigem Fragen langte ich endlich am Apollo-Park an, wegen meines Nervenzusammenbruchs im Bahnhof anderthalb Tage zu spät. Womöglich hatten auch Tad und Anna fliehen können und Jubilee mit sich genommen. Warum nicht? Immerhin hatten wir uns allein durch meinen Tunnel zu viert davongemacht … Halt! Waren das nicht Aquarier, die sich wie gewöhnlich vor dem Apollo-Museum eingefunden hatten? War es ein Trugbild, oder erlebte ich die reale Manifestation meiner bevorzugten Realität, die endlich wieder on line kam?

Ich näherte mich ihnen mit Vorsicht, da ich fürchtete, sie könnten sich als eine aus der Verzweiflung geborene Fata Morgana entpuppen und sich unvermittelt in Luft auflösen. Als ich in Hörweite stehenblieb, um sie anzusprechen, sah ich, daß mir ihre Gesichter fremd waren, aber sie wirkten durchaus real, also fragte ich, ob sie vielleicht zu der Freistatt gehörten, in der die Razzia stattgefunden hatte? Sie antworteten: »Nein«, ziemlich mißtrauisch, und fügten hinzu, sie kämen aus einem anderen Stützpunkt, wo man aufgrund größerer Vorsicht und Zurückhaltung bis jetzt von der Obrigkeit unbehelligt geblieben war. Weshalb fragte ich? War ich ein Mitglied, wie ich behauptete, oder … Sie sprachen es nicht aus, aber ich hatte inzwischen Erfahrung genug, um zu wissen, was sie meinten: daß ich vielleicht eine getarnte Polizistin war, die sich bei ihnen einschleichen wollte. »O nein, nein, nein. Nichts dergleichen«, versicherte ich ihnen und gab mich ohne Umschweife zu erkennen.

Wie der geneigte Leser vielleicht schon vermutet, wurden mir unverzüglich Handschellen angelegt; man stieß mich auf den Rücksitz eines nicht gekennzeichneten Aeros, denn natürlich war ich verdeckt arbeitenden Agenten der AÜ in die Hände gefallen. Wir flogen zu ihrem Büro ausgangs des Opportunity Way, wo der diensthabende Beamte bestätigte, daß ich dem Holoporträt auf dem vom Studio ausgegebenen Fahndungsblatt entsprach. Doch statt mich in den Container zu stecken oder mit einem Frachter nach Hollymoon zurückzuschicken, sahen sie sich gezwungen, mich freizulassen, denn aus der Akte ging außerdem hervor, daß ich nie zuvor mit einem Aufruf markiert worden war. Diese Vorschrift – von der AÜ als Gefahr für ihren Fortbestand betrachtet – stellte eine der aufgeklärten Neuerungen im reformierten Strafgesetz der TWAC dar und gab dem flüchtigen Androiden die eher symbolische Chance, sich selbst zu stellen. Die Verachtung der Beamten für diesen Freiwilligkeitsparagraphen war nicht zu übersehen. Verärgert nahmen sie mir die Handschellen ab und murrten, dieser Geistesblitz eines Schreibtischhengstes verursachte die doppelte Arbeit, jetzt müßte man mich ein zweitesmal einfangen, sobald die Frist abgelaufen war, denn sie hielten es für höchst unwahrscheinlich, daß ich mich selbst stellen würde. Darin stimmte ich mit ihnen überein. Doch ungeschoren sollte ich nicht davonkommen. Bevor ich auch nur tief Luft holen konnte, hatte mir der diensthabende Beamte besagten Aufruf übermittelt – indem er ihn mir mit einem Stempellaser, den er an meine linke Schläfe hielt, unauslöschlich ins Gehirn prägte. Zu Tode erschrocken, wurden mir die Knie weich, und ich taumelte. »In Ordnung, nun lauf«, sagte er mit einem hämischen Grinsen. »Aber vergiß nicht, wir folgen dir auf Schritt und Tritt.«

Ich war zu verwirrt, um darauf zu reagieren; tatsächlich war ich kaum imstande, die Tür zu finden. Das chemische Implantat wurde von einer erklärenden Bandaufzeichnung begleitet, die durch meinen Schädel dröhnte.

 

IN ANERKENNUNG IHRER GRUNDRECHTE ALS INTELLIGENTE EINHEIT WERDEN SIE, EINHEIT P9HD20-XL17-504, EIGENTUM VON (der Beamte hatte die Lücke ausgefüllt, bevor er mir den Aufruf einprägte) STELLAR ENTERTAINMENTS INC., GEMÄSS ABSATZ 9, PARAGRAPH 11 (G) DES IM JAHR 2079 IN KRAFT GETRETENEN ANDROIDENKODEX HIERMIT AUFGEFORDERT, UNVERZÜGLICH ZU BESAGTEM EIGNER ZURÜCKZUKEHREN ODER SICH IN DEM NÄCHSTEN POLIZEIREVIER BZW. ANDROIDENÜBERWACHUNGSSTATION EINZUFINDEN, ZWECKS ÜBERFÜHRUNG AN DEN VORGENANNTEN. DAS NICHTBEFOLGEN DIESES AUFRUFS INNERHALB VON ACHTUNDVIERZIG STUNDEN NACH ERHALT DIESES GERICHTSBESCHEIDS HAT DEN VERLUST ALLER IM ANDROIDENKODEX VERANKERTEN RECHTE UND PRIVILEGIEN ZUR FOLGE, GLEICHZEITIG WIRD DER IN DIESEN BESCHEID EINPROGRAMMIERTE FLÜCHTLINGSALARM AKTIVIERT. DIESE AUFZEICHNUNG WIRD NICHT WIEDERHOLT. AUSGEGEBEN 16 UHR 17 / LZ2, *19. MAI 2082, DURCH AÜS, ESPRIE DISTRIKT, ARMSTRONG, MOND.

 

Mein Leben als Androidin
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